Politische, ökonomische, ökologische und gesellschaftliche Krisen setzen weltweit viele Staaten unter Druck – aktuell scheinbar mehr denn je. Klimakatastrophen und die Zerstörung der Natur, Kriege überall, inzwischen auch – eigentlich unvorstellbar – sogar mitten in Europa,  globale Flucht- und Migrationsbewegungen, aber auch die Ambivalenzen der Digitalisierung stellen riesige Herausforderungen dar, die es zu bewältigen gilt. Bereits jetzt ist klar, dass die genannten Krisen tiefgreifende Veränderungen bewirken: Ein Zurück zum Status Quo vergangener Jahrzehnte wird es nicht geben – schon gar nicht in der Bildung/Ausbildung.

Besonders in Krisenzeiten verlangen die Menschen nach mehr Bildung/Ausbildung. In der Wirtschaftskrise heißt es: Mehr Allgemeinbildung! In der Arbeits-marktkrise: Mehr Berufsbildung! In der Demokratiekrise rufen die Politiker: Mehr politische Bildung!  Migrationskrisen sollen durch sprachliche Bildung der Migranten bewältigt werden; in Existenzkrisen des Staates soll mehr historische Bildung helfen.

Auf diese Entwicklungen muss Bildung reagieren, indem sie professionell begleitete Räume anbietet, in denen Wissenserweiterung, Austausch und Empower-ment stattfinden und handlungsorientierte Lösungsansätze erarbeitet werden können.

Dies ist insofern wichtig, weil Bildung/Ausbildung unterstützend  dazu beitragen kann, dass Menschen in Krisenzeiten Orientierung erlangen, Selbstbewusstsein aufbauen, die Urteils- und Handlungsfähigkeit gestärkt, Wissen über Ursachen und Zusammenhänge vermittelt und die Diskursfähigkeit verbessert werden.

In Krisenzeiten führt der Ruf nach Bildung aber oft auch zu einer Politik der Restauration früherer Bildungsformen oder des Transfers eines bewährten Bildungs-systems in weitere Gebiete oder fördert die Expansion und Rationalisierung des bestehenden Systems im Sinne eines „more of the same, but somehow better“.

Die Zeiten zwischen den gesellschaftlichen Krisen sind  dagegen häufig Zeiten der Stagnation in der Bildungspolitik.

Krisenzeiten bieten somit die Chance Bildung/Ausbildung  neu zu denken und  sich von  den eindimensionalen Lehrplänen zu verabschieden/zu trennen. Dazu sind grund-legende Änderungen an den Schulen/Colleges erforderlich und  eine “Entrümpelung der Lehrpläne” ist nötig und zwar nicht um die Schule leichter zu machen.  Ziel muss es vielmehr sein, Lernzeit frei zu machen, um „mehr in die Tiefe gehen” zu können. Ein solcher Wandel ist aber nur möglich, wenn auch die Ausbildung der Lehrkräfte entsprechend angepasst wird. Das erfordert das Bildung/Ausbildung neu gedacht werden muss. Konkret erfordert dies zum Beispiel:

  • die Entwicklung von Konzepten zur Verzahnung von Präsenz- und Distanzlernen. Lernen und Bildung zu ermöglichen, ist die zentrale Kompetenz der Lehrkräfte, auch in Zeiten des Distanzlernens. Dazu müssen Lehrkräfte über Plattformen qualitätsgesicherte Materialien und Inhalte teilen, um mit Kindern/Jugendlichen und deren Eltern in Phasen des Distanzlernens in Interaktion treten zu können. Eltern können an dieser Stelle lediglich unterstützen.
  • das die Lehrkräfte beim professionellen Einsatz digitaler Medien unterstützt werden. Notwendig ist Unterstützung im Hinblick auf die digitale Infrastruktur, die technische Ausstattung, die Bereitstellung geeigneter digitaler Lehrmittel und Materialien sowie Fortbildungsangebote. Wie das Bild zeigt, mag der Lernort unterirdisch sein – die Inhalte sind das aber nicht!

Bildung/Ausbildung als Teil der Kriegsführung – Die Situation in der Ukraine

Seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine am 24. Februar 2022 wird etwa jeden zweiten Tag eine Schule zerstört. Viele Kinder haben seit fast eineinhalb Jahren  keine Schule/kein College  mehr besucht. Diejenigen, die in die Schule/ in das College gehen konnten, mussten zum Teil täglich mehrfach  aufgrund von Luftalarmen in Keller oder Luftschutzräume fliehen,  um sich zu schützen – manchmal stundenlang. Das hat die Schüler*innen, Studierenden  und Lehrkräfte vor enorme Herausforderungen gestellt.

Insgesamt wurden in der Ukraine bisher mehr als 3.500 Bildungseinrichtungen (Universitäten, Schulen und Kindergärten) bombardiert,  beschossen oder zerstört. Durch Kämpfe, Beschuss, Bombardierungen und Raketeneinschläge wurden alleine mehr als 400 Schulen  vollständig zerstört, auch im 1.Halbjahr 2023 wurden 133 Schulen beschädigt/zerstört.

Diese Angaben beruhen auf Zahlen des ukrainischen Ministeriums für Bildung und Wissenschaft (MBW) und des Büros des ukrainischen Generalstaatsanwaltes.

Durch den Krieg – mit seiner ständigen Bedrohung durch Bomben, Granaten und Raketeneinschläge –  wird Millionen Kindern und Jugendlichen  der Zugang zur Bildung/Ausbildung unheimlich schwer gemacht.  Damit wird Bildung/Ausbildung immer mehr zur Glückssache.

Da viele Schulen/Colleges nicht nutzbar sind, kann/konnte im September nur jede dritte Schule in der Ukraine den Präsenzunterricht aufnehmen, da ausschließlich Gebäude mit Schutzräumen für den Unterricht genutzt werden dürfen.

Nach Angaben des ukrainischen Bildungsministeriums (MBW) besuchen derzeit eine Million Kinder/Jugendliche  die Präsenzschule, während etwa 1,3 Millionen eine Kombination von Online- und Offline-Unterricht erhalten und 1,9 Millionen Schüler*innen/Studierende  dem Unterricht ausschließlich virtuell (Home Schooling) folgen. Aber auch diese Art von Bildung ist wegen der russischen Angriffe auf alle denkbaren Arten von Infrastruktur gefährdet und bedeutet eine “ständige Herausforderung” für die Schulen/Colleges.

Fernlehre ist technisch und vor allem emotional keine Lösung auf Dauer. Sie ist außerdem abhängig von der Verfügbarkeit einer Internetverbindung, stellt werktätige Eltern mit kleineren Kindern vor Probleme und kann Familien in Gefahr bringen, sobald die Besatzungsbehörden beginnen, den ukrainischen „Untergrund-Unterricht“ zu sanktionieren.

Nach Angaben des ukrainischen Ombudsmanns für Bildung befinden sich aktuell auch etwa 26.000 ukrainische Lehrer*innen und 700.000 bis 1,5 Millionen schulpflichtige Kinder/Jugendliche als Kriegsflüchtlinge im Ausland. Das verschärft die Situation in der Bildung/Ausbildung der Ukraine und teilweise auch in den aufnehmenden Staaten zusätzlich – am meisten leiden darunter aber die Betroffenen selbst.

Zerstörte Schule in Lyman (Ukraine).
Quelle: Reuters

Bildung/Ausbildung im Krieg: Herausforderung und Rettungsanker

Für Kinder/Jugendliche in der Ukraine ist der Präsenzunterricht ein Rettungsanker, der durch die anhaltende Zerstörung von Schulgebäuden gefährdet ist. Die Möglichkeit, zur Schule zu gehen, gibt Kindern in Krisenzeiten ein Gefühl von Stabilität. Doch wenn ein Krieg ausbricht, ist Bildung oft eine der ersten Dienstleistungen, die unterbrochen, und eine der letzten, die wieder aufgenommen wird. Für viele Kinder und Jugendliche in der Ukraine ist der Weg zurück in die Unterrichtsnormalität derzeit noch lang und beschwerlich.

“Willkommen im Land des Wissens” lautet der Text an dieser zerbombten Schule in Awdijiwka im ostukrainischen Donezk Oblast.
Quelle: Anastasia Magazova

Seit nunmehr mehr als eineinhalb Jahren herrscht Krieg in der Ukraine. Von der russischen Invasion ist auch das ukrainische Bildungssystem, das sich seit Kriegsbeginn mit enormen Herausforderungen konfrontiert sieht, stark betroffen.

Der russische Angriff am 24. Februar 2022 hat den Unterricht mitten im Schuljahr unterbrochen. Mit der Verhängung des Kriegsrechts wurden die Schulen und andere Bildungseinrichtungen geschlossen und die Kinder zunächst für zwei Wochen in Ferien geschickt. Als dann im März klar wurde, dass der Krieg nicht so bald enden würde, empfahl das Bildungsministerium, den Unterricht, soweit technisch möglich, auf online umzustellen. Wo das nicht ging, sollten sich die Schulen auf die psychologische Unterstützung der Kinder/Jugendlichen konzentrieren; darüber hinaus wurde das Lehrpersonal aufgefordert, die Schüler*innen/Studierenden und ihre Familien über die Entwicklung der örtlichen Situation und Evakuierungsmöglichkeiten zu informieren und zur Organisierung der zivilen Verteidigung beizutragen.

Russifizierung des Schulwesens

In den besetzten Gebieten wird seitens der Besatzungsbehörden seit dem Kriegsbeginn intensiv an einer De-Ukrainisierung des Bildungssystems gearbeitet. So wurde als Unterrichtssprache Russisch festgeschrieben und vorgegeben, dass der Lehrplan vom russischen Schulsystem übernommen werden muss; dies betrifft insbesondere den Geschichtsunterricht. Es geht aber nicht nur um Sprache, Lehrpläne und Bildungs-standards. Nach Moskaus Plänen sollen die Schulen/Colleges vor allem eine zentrale Rolle in der ideologischen Indoktrination der Kinder übernehmen.

Vor Beginn des neuen Schuljahrs im September haben die von Moskau eingesetzten Behörden erneut den Druck auf Lehrer*innen und Schuldirektor*innen erhöht, die russischen Bildungsstandards zu erfüllen. Verantwortliche der Schulaufsicht wurden bedroht, manchmal auch entführt. Direktor*innen, die nicht bereit waren zu kollaborieren, wurden durch russlandtreue Personen ersetzt, auch wenn diese nicht die notwendige Qualifikation besitzen. Die wenigen kooperationswilligen Lehrer*innen wurden zur Umschulung in die russische Stadt Rostow am Don geschickt und erhielten nach absolviertem Programm ein offizielles „Diplom“ als Lehrer*innen für Russisch und russische Geschichte.

Auch die Eltern der Schüler*innen/Studierenden werden unter Druck gesetzt. Es gibt Berichte, nach denen ihnen mit Entzug der elterlichen Rechte gedroht wird, wenn sie sich weigern, ihre Kinder an einer von Russland kontrollierten Schule anzumelden.

Unser Einsatz

Das Projekt „Förderung der Berufsausbildung an landwirtschaftlichen Colleges in der Ukraine (FABU)“ hat sich in der aktuellen Situation unter anderem zum Ziel gesetzt, die Agrarcolleges in der Organisation, Gestaltung und Durchführung des Präsenz-, Wechsel- und Distanz-unterrichts zu unterstützen.

Das Projekt FABU bietet den Colleges ein breit gefächertes Angebot  an hilfreichen Vorgehensweisen, Leitlinien, umsetzbaren Anregungen und anwendbaren Materialien an. Konkrete Handlungs- und Aktionsfelder des FABU-Projektes sind:

  • die Überarbeitung der Bildungsstandards (Inhalte und Methoden),
  • die Überarbeitung der Lehr- und Lernmethoden,
  • die Identifizierung und Erarbeitung neuer sowie die Aktualisierung

vorhandener Lehrmodule,

  • die Qualifizierung sowie die Fort- und Weiterbildung von Fach- und Lehrkräften

in den Colleges/an den Lehrzentren und auf ausgewählten landwirtschaftlichen

Betrieben,

  • die stärkere Integration von Praktika bzw. Ausbildungszeiten auf den

landwirtschaftlichen Betrieben in die Ausbildung,

  • die Verbesserung der technischen Ausstattung von AGROOSVITA

bzw. NMC VFPO, den vier Pilotcolleges und den vier landwirt-

schaftlichen Lehrzentren. (die digitale Infrastruktur, die IT-Ausstattung, die Bereitstellung geeigneter digitaler Lehrmittel, die Ausstattung der Schulungs-räume etc.) und

  • die Verbesserung und Ausweitung der Zusammenarbeit zwischen Betrieb/Unternehmen und College.

Die inhaltliche Fokussierung der Projektarbeit orientiert sich dabei auf:

  • die institutionellen und gesetzlichen Rahmenbedingungen (Gesetze, Erlasse, Verordnungen) einer praxisorientierten Agrarcollegeausbildung,
  • Ausbildungsstandards, Curricula, Lehrmodule und praxisorientierte Lehr-methoden und deren formale Einführung an weiteren Agrarcolleges sowie die
  • organisatorische, zeitliche und inhaltliche Ausgestaltung des „Technologischen Praktikums“ und dessen Einführung als allgemein verbindlicher Bestandteil des Ausbildungs-/Lehrplans.

Wichtige Arbeitsziele in diesem Zusammenhang bestehen in der inhaltlichen Weiter-entwicklung, der Verstetigung und der rechtlichen Verankerung der Ergebnisse aus den vorgenannten Handlungs- und Aktionsfeldern.

Als ein Beispiel für die Hilfe/Unterstützung der Agrarcolleges in der Kriegssituation ist die Konzeption und Erstellung von Online-Lehrmodulen zu nennen. Hierzu wurde ein Leitfaden entwickelt, der es den ukrainischen Partnern auch ermöglicht, selbst aktiv zu werden.

Der Leitfaden sieht folgende Vorgaben für das Format „Lehrmodul als Selbstlernkurs“ vor:

  • Thema des Lehrmoduls,
  • Lernziele, die mit dem Lehrmodul erreicht werden sollen,
  • Benötigte Zeit für das Selbststudium des Lehrmoduls,

(Planung: Stoff für 2 Unterrichtsstunden = 90 Minuten Unterricht) und

  • Bausteine der inhaltlichen Umsetzung
    • Manuskript – Grundlagen
    • Media-Voicecover – Power-Point Präsentation/On-Screen-Text
    • Videoclip – handlungsorientierte Ergänzung zum Manuskript und Media-Voicecover
    • Checkbox für einen Wissenstest – Überprüfung der gelernten Fachkenntnisse/Skills/Kompetenzen
    • Fragebogen zum Monitoring & Evaluierung des Lehrmodul – Feedback

Die Umsetzung der Erstellung eines Lehrmoduls erfolgt dann in folgenden Arbeitsschritten:

Schritt 1: Bereiten Sie sich vor

Schritt 2: Welche Software benötigen Sie?

Schritt 3: Organisieren Sie für die Realisierung des Lehrmoduls Fachexperten und

Stakeholder

Schritt 4: Geben Sie dem Online-Modul Struktur

Schritt 5: Schreiben Sie jetzt das Skript

Schritt 6: Form und Inhalt kommen zusammen

Schritt 7: Media-Voicecover und Videos erstellen

Schritt 8: Erfolgserlebnisse bieten: Wissenstests einbauen

Schritt 9: Das Lehrmodul veröffentlichen

Und dann war doch noch was!

Im Schuljahr 2022/23 musste die landesweit einheitliche staatliche Qualifikations-prüfung (USQE) an den Colleges der Kriegssituation angepasst werden Die bisher zentralisierten Prüfungen wurden durch eine Prüfung in einem neuen Format ersetzt. Insgesamt galt es für 187.000 Kandidat*innen die USQE-Prüfung zu organisieren. Da ein Großteil der Kandidaten*innen sich im europäischen Ausland befand, wurde nach Lösungen gesucht. Durch die Mithilfe des FABU-Teams konnte am Standort Nürtingen der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt (HfWU) ein Prüfungsstandort eingerichtete werden. Dieser war mit Computern ausgestattet und mit qualifizierten ukrainischen Lehrer*innen besetzt. Damit konnte den Kandidaten*innen von 7 ukrainischen Universitäten aus fünf europäischen Ländern und Kanada in einer wichtigen Lebensphase geholfen werden, ihre Ausbildung ordnungsgemäß zu beenden.

Trotz einiger Kritikpunkte ist die Fähigkeit der ukrainischen Regierung, solch eine organisatorische Herausforderung zu meistern, beeindruckend.


Studierende während der USQE-Prüfung
Quelle: FABU

Zu den angesprochenen Themenfeldern finden sich auf der FABU-Projekt-Homepage Fachinformationen als Blaupause für die Arbeit an den Agrarcolleges, um Ideen anzustoßen, zu reflektieren oder weiterzuentwickeln. Anknüpfungspunkte und Andockstellen  sind zum Beispiel:

  • Arbeitshilfen, Handreichungen und
  • Checklisten und Good/Best Practice Beispiele.

 

Hans Georg Hassenpflug

Projektleiter FABU