Der landwirtschaftliche Sektor hat traditionell eine hohe Bedeutung für die ukrainische Volkswirtschaft. Dank der günstigen Klima- und Bodenbedingungen ist dieser eine wirtschaftliche Stärke der Ukraine. Fruchtbare Böden und niedrige Produktionskosten machen aus der ukrainischen Landwirtschaft einen prosperierenden Bereich.

Der Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften, die den Anforderungen der landwirtschaftlichen Unternehmen gerecht werden, ist groß. Das zeigt sich u. a. darin, dass der landwirtschaftliche Sektor einer der wichtigsten Arbeitgeber in der Ukraine, insbesondere im ländlichen Raum, ist. Auch wenn keine gesicherten Angaben vorliegen, kann davon ausgegangen werden, dass ca. 15 – 20 % der arbeitsfähigen Bevölkerung im landwirtschaftlichen Sektor (inklusive des vor- und nachgelagerten Bereichs) beschäftigt sind.

Allerdings stellt der Bereich der beruflichen Bildung auch im landwirtschaftlichen Bereich heute ein besonderes Problemfeld im ukrainischen Bildungswesen dar. Hier kumulieren sich derzeit u. a. noch die ungelösten Probleme des Landes und der unzureichende Stand der gesamtgesellschaftlichen Reformen.

Der Alltag im Bildungswesen, auch im Agrarsektor, ist durch eine schlechte Finanzlage, eine veraltete Ausstattung und teilweise auch durch ein fehlendes innovativ orientiertes Lehrpersonal gekennzeichnet. Mangels sozialer und finanzieller Attraktivität einer Tätigkeit im Bildungswesen verzögert sich die personelle und damit zu einem beträchtlichen Teil auch die geistige, fachliche und methodische Erneuerung der Ausbildung. Dies gilt in gleichem  Maße auch für die beruflichen Bildungseinrichtungen, die z. T. mit maroder Ausstattung und veralteter Technologie in den Lehrwerkstätten und landwirtschaftlichen Betrieben zu kämpfen haben. An eine flächendeckende berufliche Aus- und Weiterbildung auf modernstem technischem Niveau ist daher derzeit nicht zu denken.

Einen durchaus tragfähigen Start der Reform des Bildungswesens wurde mit den gesetzlichen Grundlagen, wie dem Gesetz über die Berufsbildung (1998), dem Gesetz über die Bildung (2017) und dem Gesetz über die Mittlere Allgemeinbildung (2020) geschaffen. Allerdings hat die immer noch beibehaltene Unifizierung von Inhalten, Lehrplänen und –materialien etc. bisher eine Anpassung der Berufsausbildung an die konkreten Bedürfnisse des Arbeitsmarktes verhindert.

Auf den genannten gesetzlichen Grundlagen bemühen sich die Bildungseinrichtungen zwar einerseits, sich von der ideologischen Indoktrinierung zu lösen und sich an die Bedingungen der entstehenden marktwirtschaftlichen Ordnung anzupassen. Andererseits wirft die nicht ausreichende Finanzierung des Bildungswesens die oben genannten substantiellen Probleme auf. Dies zeigt sich unter anderem darin, dass es auch im Agrarbereich z. T. an qualifizierten Lehrkräften und Ausbildern sowie neuen Unterrichtskonzeptionen und entsprechenden aktuellen Unterrichtsmaterialien fehlt.

Festzuhalten ist somit, dass das Bildungswesen bisher mit der Verwirklichung der konzep-tionellen Ansprüche der Politik überfordert war. Die Umsetzung von Reformplänen führte zu einer Situation, die bis heute charakteristisch ist. Die Absage an alte Strukturen und Inhalte und ihr Abbau verlief nicht parallel zur Entwicklung und dem Aufbau neuer Strukturen und Inhalte. Die rivalisierende Koexistenz alter und neuer Elemente führte zu einer Orientierungslosigkeit aller am Bildungswesen Beteiligten, wodurch die Reformmaßnahmen zusätzlich gebremst oder gänzlich verhindert wurden.

Vor diesem Hintergrund bedarf es jetzt dringend einer inhaltlichen und strukturellen Erneuerung bestehender Ausbildungsberufe und der Erarbeitung neuer Berufsprofile und Ausbildungsprogramme, die den neuen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und der in großen Teilen stattgefundenen Modernisierung der landwirtschaftlichen Produktion gerecht werden. Deutlich wird dabei immer mehr, dass die Ukraine dabei in hohem Maße auf ausländische Hilfe angewiesen ist, um die Entwicklung des landwirtschaftlichen Ausbildungssystems im Einklang  mit den rasant voranschreitenden Modernisierungs-prozessen in der Landwirtschaft z realisieren. Aktuell kann das landwirtschaftliche Ausbildungssystem (vereinfacht) in drei Stufen unterteilt werden:

  • Technische Schulen und Berufsschulen (Technical and Vocational schools): diese stellen die unterste Stufe der fachlichen Ausbildung dar (z.B. Traktorfahrer, Schlosser, Handwerker).
  • Agricultural Colleges: die Colleges stellen den wichtigsten Baustein im landwirtschaftlichen Ausbildungssystem dar. Diese Ausbildungsstätten sind mit Fachschulen bzw. beruflichen Gymnasien in Deutschland zu vergleichen. 90 % der Studierenden haben einen mittleren Abschluss und durchlaufen eine drei- bis vierjährige Ausbildung. Neben einer Berufsqualifikation in der gewählten    Spezialisierung, die im Ansatz praxisorientiert ausgerichtet ist, erhalten die Studierenden eine weitere Allgemeinbildung und der Abschluss (Young Specialist) ermöglicht den Absolventen*innen den fachgebundenen Zugang zur Hochschule bzw. Universität.  Letzteres wird von der Mehrzahl der Absolventen*innen in Anspruch genommen.
  • Landwirtschaftliche Hochschulen/Universitäten und Institute.

Die Agrarcolleges stellen somit einen sehr wichtigen Baustein in der landwirtschaftlichen Ausbildung dar. Sie repräsentieren die mittlere Ebene der Agrarausbildung. Ihre Absolventen*innen bilden einen wichtigen Teil der künftigen Fachkräfte in der Landwirtschaft der Ukraine.

Der Zugang zu den Colleges ist sowohl mit dem Mittelschulabschluss (nach 9- und 11-jähriger Schulbildung) als auch mit dem Abschluss einer landwirtschaftlichen Berufsschule möglich.

Insgesamt gibt es in der Ukraine derzeit 105 dieser Colleges, an denen ca. 65.000 Studenten*innen ausgebildet werden. Die Agrarcolleges sind in allen Regionen des Landes vertreten, genießen bei den landwirtschaftlichen Betrieben eine vergleichsweise hohe Reputation und sind von großer nationaler und regionaler Bedeutung für  die Ausbildung des landwirtschaftlichen Fachkräftenachwuchses in der Ukraine. Darüber hinaus haben sie eine große wirtschaftliche und soziale Bedeutung im ländlichen Raum.

Trotz bereits vollzogener Reformen reflektiert das aktuelle System immer noch stark das vormalige sowjetische Ausbildungssystem. So liegt der Schwerpunkt auf allen Ebenen immer noch auf der Vermittlung von reinem Wissen, während die  Vermittlung praktischer Kenntnisse eher stiefmütterlich behandelt wird.

Ein Grundproblem einer stärker praxisorientierten landwirtschaftlichen Ausbildung stellt die veraltete technische Ausstattung dar, die nicht mehr den Anforderungen einer modernen Landwirtschaft entspricht. Auch wenn der Lehrkörper über umfangreiches, theoretisches Wissen verfügt, so fehlen den meisten Dozenten*innen  die erforderlichen Praxiskenntnisse und praktischen Fähigkeiten, um moderne landwirtschaftliche Produktionstechnik und –verfahren sachgemäß zu unterrichten.

Dieses Defizit versuchen Großbetriebe über eigene Fortbildungs- und Schulungsmaßnahmen ihrer Mitarbeiter*innen zu kompensieren. Die Möglichkeiten sind jedoch begrenzt, da hierfür oftmals geeignetes Schulungspersonal und geeignete Konzepte fehlen. Zudem gibt es diese Möglichkeit bei kleineren und mittleren Betrieben kaum.

Um den zukünftigen Herausforderungen in der Agrar- und Ernährungswirtschaft gerecht zu werden, kommt aber der Verfügbarkeit von gut qualifizierten Fach- und Führungskräften eine immer wichtigere Rolle zu.

Die Sicherung des beruflichen Nachwuchses und der fachlichen Qualität in den land-wirtschaftlichen Berufen ist für die Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit der ukrainischen Landwirtschaft, den Erfolg der Betriebe und Unternehmen sowie die Erhaltung der Funktionsfähigkeit der ländlichen Räume eminent wichtig und für die Zukunftsfähigkeit des Sektors entscheidend.

Für die inhaltliche Ausgestaltung der landwirtschaftlichen Ausbildung an den Agrarcolleges in der Ukraine  ist die dem Bildungsministerium (bis 2014 dem Agrarministerium) unterstehende staatliche Einrichtung “Wissenschaftlich-Methodisches Zentrum für die Hochschul- und weiterführende Berufsbildung – WMZ VFPO“ verantwortlich. Die staatliche Einrichtung WMZ VFPOM hat eine koordinierende Funktion für die landwirtschaftliche Ausbildung. So hat sie u.a. die Verantwortung für die Koordinierung von methodischen Aktivitäten, den Austausch und die Vermittlung von Erfahrungen sowie für die Erstellung von übergreifenden Lehrmaterialien, inkl. Ausbildungsstandards und Curricula.

Das Wissenschaftlich-Methodische Zentrum für die Hochschul- und weiterführende Berufsbildung hat bereits in den 90-iger Jahren die Defizite in der Collegeausbildung (fehlende Praxis, zu geringe Vermittlung von handlungsorientierten Fähigkeiten, Aktualität der Lehrinhalte etc.) erkannt und versucht, diese über die Einrichtung von landwirtschaftlichen Trainingszentren (Educational and Practical Centres – EPC) an ausgesuchten Collegestandorten auszugleichen. So wurden zwischen 1996 und 2008 insgesamt 14 EPCs eingerichtet, von denen aktuell noch 12 funktionsfähig sind und aktiv arbeiten.

Die in den EPC angebotenen Trainings bestehen in der Regel aus einwöchigen Kursen zu ausgewählten Fachthemen und richten sich sowohl an Studenten*innen als auch an Angestellte von landwirtschaftlichen Betrieben. Die Anzahl der dort ausgebildeten Kursteilnehmer*innen variiert sehr stark (zwischen 150 und 1.200 pro Jahr und EPC) in Abhängigkeit von der Anzahl der angebotenen Kurse, aber auch vom Renommee der jeweiligen Einrichtung.

Um den Ansatz einer praxisnäheren, inhaltlich aktuellen Ausbildung an den landwirtschaft-lichen Colleges in der Ukraine gerecht zu werden, die methodisch und inhaltlich besser an die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes angepasst ist, wurde das bilaterale Kooperationsprojekt „Förderung der Berufsausbildung an landwirtschaftlichen Colleges in der Ukraine (FABU) – UKR 17-01“ eingerichtet.

Dieses soll durch Aus-, Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen und die Beratung von Dozenten*innen zunächst in fünf Spezialisierungen (Pflanzenbau, Landtechnik, Tierproduktion, Veterinärmedizin und Elektrotechnik) an vier ausgewählten ukrainischen Colleges (Myrohoschanskyy Agricultural College in der Westukraine-Rivne); Illintsi State Agrarian College in der Zentralukraine-Winnitsa; Lypkovativka Agricultural College in der Ostukraine- Charkiv und Glukhovsky Agrotechnical Institute in der Nordostukraine) sowie der überge-ordneten staatlichen Einrichtung WMZ  VFPO zu verbesserten Fertigkeiten und einem stärker praxisorientierten Wissen der Collegeabsolventen*innen führen.

Vor diesem Hintergrund wurden u. a. folgende Projektmaßnahmen eingeleitet und in den vergangenen 3 ½ Jahren umgesetzt:

  • die Überarbeitung und Anpassung der Ausbildungsstandards (Inhalte und Methoden) in den fünf ausgewählten fachlichen Schwerpunkten an den aktuellen internationalen Standard;
  • die Überarbeitung und Aktualisierung der Curricula/Lehrpläne in den ausgewählten fachlichen Schwerpunkten;
  • die Aus-, Fort- und Weiterbildung der Collegelehrer*innen in Methodik und Didaktik;
  • die Stärkung der fachlichen Kompetenzen von Fach- und Lehrkräften an den Colleges bzw. in den Betrieben durch gezielte Aus-, Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen;
  • die Entwicklung und Umsetzung praxisorientierter Lehrveranstaltungen bzw. Lehrmodule und die Konzeption neuer Lehreinheiten/Lehrmodule durch eine abgestimmte Zusammenarbeit von Betrieb/Unternehmen und College;
  • die Überarbeitung und Anpassung der praktischen Ausbildung u. a. durch die Stärkung der praktischen Komponente wie die Integration von Praktika bzw. Ausbildungszeiten auf den Betrieben (Betriebspraktikum) sowie
  • die Verbesserung der technischen Ausbildungsvoraussetzungen bei WMZ VFPO und an den vier beteiligten Pilotcolleges;
  • die Verbesserung der Zusammenarbeit Betrieb/Unternehmen und College.

Damit wird das Projekt gleichermaßen den Ansprüchen und Zielen der ukrainischen Bildungspolitik,  aber auch dem Anforderungsprofil des BMEL durch eine engere Verzahnung zwischen dem Bildungs- und dem Produktionsbereich bei der Ausbildung von Fachkräften  gerecht.

Mit der Umsetzung des Projektansatzes wird die bisher vorhandene Trennung zwischen Theorie und Praxis überwunden und die Ausbildung von Fachkräften besser den realen wirtschaftlichen Gegebenheiten und Anforderungen des Arbeitsmarktes angepasst. Darüber hinaus wird mit dem Projekt die Umsetzung eines zeitgemäßen Qualifikationsrahmens sowie die Erarbeitung moderner beruflicher Standards und Lehrinhalte für die Ausbildung im Agrarsektor der Ukraine unterstützt.

Der unmittelbare und fachkundige Wissensaustausch zwischen ukrainischen und  deutschen Bildungsexperten*innen  bzw. Collegedozenten*innen steht dabei im Zentrum der Projektarbeit. Schwerpunkte der Projektaktivitäten bilden gezielte Qualifizierungsmaßnahmen einschließlich eines intensiven Erfahrungsaustauschs, der auch ein mehrmonatiges Praktikum von Studierenden der Pilotcolleges auf deutschen Agrarbetrieben und Fachinformations-fahrten von ukrainischen Fachleuten nach Deutschland vorsieht.

Neu in diesem Zusammenhang ist, dass die Ausbilder*innen  der Betriebe in die Wissens-vermittlung einbezogen werden und eine Ausbildung nach dem Block-Modul-System (Erlernen der theoretischen Unterrichtsinhalte in Bildungseinrichtungen und deren praktische Anwendung in den landwirtschaftlichen Betrieben) eingeführt wird.

Das FABU-Projekt war nach Ansicht der ukrainischen Partner bereits in den vergangenen 3 ½ Jahren  ein lehrreiches „Show-Case“.

Zwei sehr wichtige Meilensteine der Projektarbeit konnten in diesem Zeitraum  realisiert werden:  die Zustimmung des Bildungsministeriums zu den überarbeiteten und aktualisierten Lehrplänen und Curricula der fünf ausgewählten Spezialisierungen und deren Test an den vier Pilot-Colleges als Pilotmaßnahme ab dem Schuljahr 2019/2020 , sowie die Einführung eines 4-monatigen „technologischen Praktikums (Betriebspraktikums)“ auf den landwirtschaftlichen Betrieben ab dem Schuljahr 2021/2022.

Beides sind wichtige Bausteine und damit eine Starthilfe, die den Bedürfnissen und Rahmenbedingungen der Ukraine entsprichen.

 

Hans Georg Hassenpflug

Projektleiter FABU