Der neue Agrarattaché an der deutschen Botschaft in der Ukraine, Herr Frank Müller, besuchte am Mittwoch den 12. August 2020, das bila­terale Kooperationsprojekt “Förderung der Berufsausbildung in landwirtschaftlichen Colleges der Ukraine” (FABU) und die staatliche Einrichtung „NMC VFPO”, um sich in beiden Einrichtungen persönlich vorzustellen und sich einen eigenen ersten Eindruck von deren Ar­beit zu machen.

Des Weiteren wollte sich Herr Müller im Rahmen seines Besuchs über die bisher er­zielten Ergebnisse und die identifizierten Probleme informieren.

Der Projektleiter des FABU-Projektes, Herr Hans Georg Hassenpflug, war zu Beginn des Treffens mit Herrn Müller per Skype zugeschaltet. Er eröffnete den Gedankenaus­tausch. Nach einer persönlichen Vorstellung betonte Herr Hassenpflug einleitend, dass der Verfügbarkeit von Fach- und Führungskräften im Agrarsektor der Ukraine eine bedeutende Rolle zukomme. Dies gelte umso mehr, als bereits jetzt in der Landwirt­schaft der Ruf nach qualifizierten Mitarbeitern/Mitarbeiterinnen immer lauter werde. Vor diesem Hintergrund komme der beruflichen Ausbildung an den Colleges im Agrarbe­reich eine zentrale Bedeutung bei der Lösung des Problems zu.

Das bilaterale deutsch-ukrainische Projekt „Förderung der Berufsausbildung an land­wirtschaftlichen Colleges in der Ukraine“ (FABU) nehme sich, so Hassenpflug, dieses Themas an. So seien beispielsweise im Rahmen der bisherigen Projektarbeit gezielt Methoden und Inhalte einer praxisnahen Ausbildung an den vier landwirtschaftlichen Pilotcolleges in der Ukraine eingeführt worden. Zu diesem Zweck seien in den vergan­genen drei Jahren die vorgegebenen Ausbildungsstandards und Curricula überarbeitet, an die Anforderungen der Berufspraxis und die internationalen Standards angepasst sowie die Dozenten fortgebildet und praxisorientierte Lehrmethoden eingeführt worden.

Nach Aussage von Hassenpflug repräsentieren die Agrarcolleges die mittlere Ebene der Agrarausbildung in der Ukraine. Sie ermöglichen ihren Studenten/Studentinnen so­wohl eine erste Berufsqualifikation als auch eine fachgebundene Zugangsberechtigung für die Hochschule. Sechs von zehn College-Absolventen/Absolventinnen nehmen ein weiterführendes Studium an einer Agraruniversität oder -akademie auf, die übrigen er­greifen eine Berufstätigkeit. Typische Arbeitsplatzchancen bestehen in landwirtschaft­lichen Großbetrieben, in den vor- und nachgelagerten Wirtschaftsbereichen oder in den familiengeprägten Farmerbetrieben.

Tetyana Ishchenko, Direktorin NMC VMPO, ergänzt, dass die insgesamt 107 Agrar­colleges in allen Regionen der Ukraine flächendeckend vertreten sind. Sie würden bei den landwirt­schaftlichen Betrieben eine vergleichsweise hohe Reputation genießen und seien in den jeweiligen Regionen von großer Bedeutung für das landwirtschaftliche Wissenssystem und die Ausbildung des landwirtschaftlichen Fachkräftenachwuchses in der Ukraine.

Beide stellten fest, dass die Colleges gefordert seien ihre Absolventen „berufsfähig“ zu machen, um den Ansprüchen der potentiellen Arbeitgeber und Hofnachfolger gerecht zu werden. Dies bedeute, die Studierenden müssen die landwirtschaftlichen Grund­lagen in ihrer Breite kennen und entsprechend der gewählten Spezialisierung über ver­tiefte fachliche Spezialkenntnisse verfügen. Darüber hinaus müssen sie über die not­wendigen Fertigkeiten verfügen, diese Kenntnisse im betrieblichen Zusammenhang praktisch anwenden und sollten ein gewisses Maß an betriebswirtschaftlichen Kennt­nissen und Managementfähigkeiten besitzen. Vor diesem Hintergrund sei es erforder­lich, die Zusammenarbeit mit Praxisbetrieben und die Verlagerung der Praxisphasen auf Betriebe mit zeitgemäßer Ausstattung sichtbar zu verstärken.

Nach Aussage Hassenpflugs muss es das Ziel sein, die jungen Menschen zu eigen­ständigem unternehmerischen Handeln zu motivieren. Dazu sei es wichtig, die Betriebe und die Wirtschaft für die Ausbildung des Nachwuchses zu gewinnen und einzubinden. Frau Ishchenko meinte, dass die projektbeteiligten Colleges dafür gute Voraus­setzungen hätten: eine gute Reputation, engagierte und erfahrene Lehrkräfte und leistungsbereite Studierende. Entscheidend wird ihrer Meinung nach sein, ob es gelingt, dieses Potential aufzugreifen und eine weitere Ausdehnung und Differenzierung des Bildungsangebots gezielt zu forcieren.

Alle im Rahmen einer Baseline-Studie zu Projektbeginn befragten Akteure (Lehrkräfte, Studenten, Betriebe, Experten) weisen auf ein erhebliches Verbesserungspotential bei den fachbezogenen Spezialkenntnissen, insbesondere im Bereich moderner Techno­logien und Methoden der landwirtschaftlichen Produktion, hin. Hier gilt es, nach Meinung von Hassenpflug, anzusetzen und zunächst den Wissenstand der Lehrkräfte durch ge­eignete Fortbildungsmaßnahmen zu verbessern. Die mangelhafte Ausstattung der Colleges mit zeitgemäßen Lehrmaterialen etc. behindert allerdings die Vermittlung mo­dernen produktionsbezogenen Know-hows.

Das zweite wesentliche Defizit/Kritikpunkt bezieht sich auf die praktischen Fähigkeiten der Absolventen, ihre Kenntnis betrieblicher Zusammenhänge und Abläufe sowie ihre landwirtschaftlichen Praxiserfahrungen – und auch hier insbesondere im Zusammen­hang mit der praktischen Anwendung moderner Produktionsmethoden und dem Einsatz moderner landwirtschaftlicher Geräte. Die Curricula aller Spezialisierungen sehen umfangreichen prakti­schen Unterricht und zahlreiche in das Studium integrierte Praxisphasen vor. Die der­zeit angebotenen Praxisphasen werden laut Aussage von Frau Ishchenko überwiegend in den Laboren, Werkstätten und Lehrbetrieben der Colleges selbst und nicht in Praxis­betrieben durchgeführt. Vor dem Hintergrund der mangelhaften Ausstattung der Collegeeinrichtungen sollte nach Hassenpflug auch in diesem Punkt die Zusammenar­beit mit Praxisbetrieben und die Verlagerung der Praxisphasen auf Betriebe mit zeitge­mäßer Ausstattung angestrebt werden.

Im Unterschied zu vergleichbaren Ausbildungsgängen in vielen westlichen Ländern ist die Collegeausbildung in der Ukraine grundsätzlich von Beginn an spezialisiert. Vor diesem Hintergrund werden den Studierenden spezialisierungsübergreifende Zu­sammenhänge der landwirtschaftlichen Produktion nicht oder nur in geringem Maße vermittelt (z.B. Pflanzenbau und Maschineneinsatz, Tierernährung und Anbau von Futterpflanzen, etc.).

Ansatzpunkte für eine Verbesserung der Situation und einer stärkeren Hinwendung der Ausbildung in Richtung Handlungsorientierung gibt es nach Hassenpflug viele und diese wären z. B. in einer verstärkten Kooperation zwischen Ausbildungseinrichtungen und der land­wirtschaftlichen Praxis durchaus realisierbar.

In diesem Zusammenhang nennt er unter anderem:

  • Bereitstellung von Praktikumsplätzen seitens der Betriebe für betriebliche Praktika mit einer bestimmten Mindestdauer und Übernahme der Praktikantenbetreuung durch die Betriebe;
  • Lehraufträge und Gastdozenturen an Agrarcolleges für erfahrene Betriebsleiter und Praktiker sowie Spezialisten von Verbänden;
  • Durchführung von Lehrveranstaltungen auf den Flächen bzw. in den Einrichtungen von Praxisbetrieben („Lernort Betrieb“);
  • Nutzung verbandseigener Fort- und Ausbildungseinrichtungen für die Dozentenfortbildung und Kurse für Studenten;
  • Entwicklung von Weiterbildungsangeboten seitens der Agrarcolleges für Mitarbeiter und Fachkräfte landwirtschaftlicher Betriebe.

Frau Tetyana Ishchenko rundete die Informationen für den Gast mit einer Darstellung der Hauptaktivitäten des wissenschaftlichen und methodischen Zentrums und seine Aufgaben im Rahmen der beruflichen Ausbildung in der Ukraine ab. In diesem Zu­sammenhang erläuterte sie auch die Besonderheiten der Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Rezipienten innerhalb des Projekts.

Herr Müller beurteilte die bisher im Projekt geleistete Arbeit sehr positiv und betonte, dass eine marktorientierte Ausbildung der Studierenden zu den wichtigsten Aufgaben eines Bildungssystems gehöre. Als gelernter Landwirt und studierter Agrarwissenschaftler, der vor seinem Eintritt in den Staatsdienst selbst mehrere Jahre in der Agrarbranche gearbeitet habe, könne er dies auch aus seiner eigenen Biografie heraus bestätigen. Nicht zuletzt aufgrund des rasanten Innovationstempos, das die Landwirtschaft zu einer High-Tech-Branche gemacht habe, sei eine moderne Ausbildung umso wichtiger.

Um dieses Ziel zu erreichen, müssten Lehrpläne, Lehrinhalte und die Qualifikation der Dozentinnen und Dozenten gleichermaßen den An­sprüchen des Arbeitsmarktes gerecht werden. Das Projekt FABU und seine ukrainischen Partner leisten hierfür, nach seinen Eindrücken, einen ganz wichtigen Beitrag. Er zeigte sich von der konstruktiven und zielorientierten Zusammen­arbeit der Projektpartner beeindruckt und wünscht sich für die Zukunft weiterhin eine so hohe Motivation und ein so großes Engagement im Projekt wie bisher. Gerade in der Ukraine, in der die Landwirtschaft das Rückgrat der Volkswirtschaft darstelle, sei dies für die Zukunft des gesamten Landes ein sehr wertvoller Beitrag.

Abschließend stellte er fest, dass der Gedankenaustausch und die Informationen sehr konstruktiv und für ihn sehr wichtig waren. Alle Gesprächsteilnehmerinnen und –teilnehmer freuen sich auf die zukünftige Zusammenarbeit.

 

Hans Georg Hassenpflug,

Projektleiter FABU